Künftig wird die Zusammenarbeit in vielen Unternehmen hybrid sein. Wir können im Homeoffice arbeiten und wollen ins Officehome gehen. Officehome bedeutet, dass Büros mehr benötigen als nur neue Technik und Ausstattung. Ohne die Entwicklung neuer Formen der Führung und Zusammenarbeit werden die Investitionen in die Infrastruktur nicht die erwartete Wirkung erzielen: Selbstbestimmtes Arbeiten braucht in Unternehmen eine „Digital Working Culture“. Meint der ehemalige Olympiasieger und erfahrene Change Manager Dr. Michael Groß in seinem Gastbeitrag.
„So kann ich nicht arbeiten. Ich weiß nicht mehr, was passiert. Niemand muss mehr an mir vorbei, um eine Entscheidung zu bekommen.“ Das war die Reaktion nach einer Woche arbeiten ohne eigenen Arbeitsplatz. Dafür hatte bei einem klassischen deutschen Mittelständler das neue Bürokonzept mit „non-territorialem Arbeiten“ gesorgt. Wer hatte so schnell und scharf geurteilt? Nicht der Geschäftsführer, auch keine andere Führungskraft, jedoch eine sehr wichtige Person in der Organisation: die Chef-Sekretärin. Ihre Position als informelle „Spinne im Netz“ war verschwunden.
Viele Konzepte für „agile Bürostrukturen“ oder den „digitalen Workplace“ besitzen eine elementare Lücke: Die bestehende Kultur einer Organisation findet keinen Platz, weder in der Konzeption noch in der Umsetzung. Es geht nicht darum, in der Vergangenheit hängen zu bleiben. Es geht darum, eine Brücke in die Zukunft zu schlagen. Nur so können Räume für eine neue, nachhaltig wirksame Kultur entstehen, die „Digital Working Culture“. Und eine Kultur besteht aus mehr Elementen, als unsere Zusammenarbeit zu digitalisieren. Dort war der Schub während der Corona-Zeit gigantisch, wie Zahlen von Microsoft zeigen. So nahm laut „Microsoft Work Index 2021“ Die wöchentliche Meetingzeit von Teams-Nutzern seit Beginn der Corona-Krise um 148 Prozent zu – und soll weiter steigen. Ähnliches belegt auch eine Untersuchung des Bitkom: In einer im Januar 2021 in Deutschland durchgeführten Umfrage zum Nutzungsverhalten von privaten Videotelefonaten gaben 19 Prozent der Befragten an, während der Corona-Krise fünf bis neun Stunden pro Woche Videogespräche geführt zu haben. Im Vergleich dazu waren es vor der Corona-Pandemie drei Prozent der Befragten.
Keine Zukunft ohne Herkunft
Die bestehende Kultur in allen Facetten zu bewerten, das ist nicht notwendig. Die entscheidenden Hindernisse für die „Digital Working Culture“ sind zu ermitteln. Wesentliche Grundannahmen einer Kultur schlagen sofort durch. Nicht nur Raumstrukturen, auch Machtpositionen verändern sich. Privates wird öffentlich und auch umgekehrt. Alte Grenzen werden abgebaut und neue Grenzen geschaffen, die nicht immer freudig akzeptiert werden.
Die „Cultural Due Diligence“ liefert genau diese Hinweise, welche Grundannahmen förderlich oder hinderlich sein werden bei einer geplanten Veränderung. Wichtig ist der Dialog mit Führungskräften und Mitarbeitern, um die Grundannahmen freizulegen. Denn einzelne Personen können nicht sagen, wie einzelne Verhaltensweisen zustande kommen. Typisch sind diese Aussagen: „Das machen wir hier so“ oder „So macht man sich bei uns keine Freunde“. In Tiefeninterviews und Fokusgruppen kann zu den Ursachen vorgedrungen werden. In Pulsbefragungen aller Mitarbeiter wird die kollektive Relevanz kritischer Aspekte überprüft.
Die Ergebnisse werden mit vorhandenen Informationen darüber zusammengeführt, wie eine Organisation funktioniert. Dazu zählt der Blick auf Strukturen und Abläufe, Symbole und Werte, interne Medien und das Verhalten, wie zum Beispiel Meeting-Rituale oder die E‑Mail-Praxis. Nicht zuletzt wird der Sollzustand verglichen. Die Kernfragen lauten: Was wollen wir künftig warum wie tun? Welches Problem lösen wir dadurch? Und was sind die unabweisbaren Vorteile? Denn jede „Digital Working Culture“ ist eine Kombination aus Selbstbestimmung, Selbstversorgung und auch Selbstverwirklichung.
Digital Working Culture etablieren
Jede New-Work-Lösung, die ich gemeinsam mit meinen Kunden entwickele, betrachtet die verschiedenen Aspekte und Anforderungen. Häufig entsteht ein schrittweises Vorgehen, damit Führungskräfte und Mitarbeiter Akzeptanz und Vertrauen in die neue Arbeitswelt aufbauen.
Meistens sind mit sehr überschaubarem Aufwand – im Vergleich zu den Investitionen in die Infrastruktur – die Konfliktpotenziale zu bestimmen. Daraus lassen sich die notwendigen Aktivitäten im Change Management und Talent Management bestimmen. Die Kommunikation und der Dialog mit den beteiligten Führungskräften und Mitarbeitern ist dabei ein Element, jedoch lange nicht alles zur Einführung der „Digital Working Culture“.
In vielen Projekten hat sich gezeigt, dass die Fähigkeiten der Beteiligten nachhaltig entwickelt und unterstützt werden sollten. Zum Beispiel sind Führungskräfte zu befähigen, indirekt mit ihren Teams zu arbeiten und weitere Rollen zu übernehmen. Dazu zählen der Impulsgeber für neue Arbeitsformen oder der Brückenbauer in agile Arbeitsweisen zu sein. Das Festhalten an einer traditionellen hierarchischen Informationspolitik unterläuft eine „Digital Working Culture“.
Planen, Handeln und Lernen verbinden
Für eine steile und erfolgreiche Lernkurve bietet sich eine bewährte Methode an: das „Action Learning“. Denn diese Methode verankert die fortlaufenden und wechselnden Veränderungs- und Lernprozesse – und nimmt so nachhaltig positiv Einfluss auf die Kultur. Die Module im „Action Learning“ werden als Ganzes und in Teilen, je nach Anlass und Bedarf, zum Beispiel durch die Komplexität der Aufgaben oder Zahl der beteiligten Abteilungen, eingesetzt. Drei Formate verknüpfen das weitere Planen, fortlaufende Handeln und Lernen.
- Design-Team: Hier treffen sich alle Beteiligten und Betroffenen der Bereiche oder Standorte. Hier wird vor dem Start neuer Aktivitäten, das vorhandene Wissen überprüft und der Bedarf zur Ergänzung ermittelt. Auf dieser Basis werden der Inhalt und das Vorgehen der Veränderungen bestimmt. In der Folge werden der Ablauf gesteuert, die „Sets“ koordiniert, Arbeitsaufträge verteilt, geprüft und überarbeitet und die Lernfortschritte verfolgt. Das Team kümmert sich auch um Dokumentation und Kommunikation.
- Sets: In kleinen Gruppen, zum Beispiel in Fachbereichen oder bei Teilprojekten, werden die konkreten Herausforderungen, die sich aus der Aufgabe ergeben, bestimmt und die notwendigen Lösungen durch Kombination von Wissen und Erfahrung entwickelt. Explizit ist der „Blick über den Tellerrand“ durch Einholen weiterer Expertise gewünscht, zum Beispiel durch neue Beziehungen zu anderen Abteilungen oder externen Dienstleitern.
- Qualitätszirkel: Diese moderierten, strukturierten Feedback-Runden von maximal zwei Stunden unterstützen das Design-Team und die Sets durch den Blick von Außen, um den Erfolg für das konkrete Vorhaben und das gesamte Unternehmen zu sichern. Der Reflexionsprozess legt frei, wo Lernergebnisse erzielt worden sind, wo Nachholbedarf besteht und wie dieser angegangen werden kann.
Kombiniert werden diese drei Instrumente mit übergreifenden Maßnahmen zur Bewertung von Ergebnissen, wie zum Beispiel Pulsbefragungen oder auch die qualitativen Resonanzen in den internen Plattformen zur Kollaboration. Diese Auswertung und Bewertung ist essenziell für eine „Digital Working Culture“. Weil mehr denn je gilt: Stillstand bedeutet Rückschritt.
Über den Autor Dr. Michael Groß
Dr. Michael Groß wurde bekannt als Olympiasieger im Schwimmen. Seit 2001 ist er geschäftsführender Gesellschafter der Groß & Cie. GmbH, Königstein im Taunus. Im Change Management steht der erfolgreiche Wandel in Unternehmen im Fokus, zum Beispiel bei Post Merger Integrationen und Restrukturierungen. Im Talent Management werden die Kompetenzen von Unternehmen entwickelt, zum Beispiel durch das Training der Führungskräfte. Groß besitzt einen Lehrauftrag an der Universität Frankfurt am Main zum Thema „Digital Transformation & Leadership“. Zudem ist er Autor von Fachbüchern, 2019 erschien das “Digital Leader Gamebook“.
Homeoffice, Office oder hybrid?
Wie das Informationsmanagment hilft eine hybride Arbeitswelt in Unternehmen zu realiseren, verraten wir in unserem kostenfreien E‑Book “Büro vs. Homeoffice”. Interessante Einblicke in die Büroarbeitswelt von heute und morgen geben wir auch regelmäßig in unserem Livestream-Format Kyocera Insights. Im Gespräch mit Experten aus Wirtschaft und Wissenschaft diskutieren wir darin regelmäßig über die Herausforderungen, die Megatrends wie Digitalisierung, New Work oder Nachhaltigkeit mit sich bringen und stellen Lösungen vor. Alle Folgen und Termine auf www.insights.kyocera.de.
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