Die Digitalisierung des deutschen Gesundheitssystems kommt nur schleppend in Fahrt. Langfristig führt an ihr aber kein Weg vorbei. Das eröffnet Chancen für den Mittelstand, wie Prof. Dr. Jochen A. Werner, Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender des Essener Universitätsklinikums, in seinem Gastbeitrag verrät.
Die moderne Medizin ist zumindest in der praktischen Anwendung mit Siebenmeilenstiefeln in Sachen Digitalisierung unterwegs und hat die Potenziale von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz zur Verbesserung der Diagnostik, Therapie und Prävention erkannt. In immer mehr OP-Sälen wird mithilfe von Robotern gearbeitet, Augmented und Virtual Reality haben längst bei Ausbildung und Behandlung Einzug gehalten, gewaltige Datenmengen bilden die Basis für erfolgreiche Therapien bei komplexen Krankheitsbildern wie etwa in der Onkologie.
Ist Deutschland also auf dem richtigen Weg? Weit gefehlt. Denn viele fortschrittliche Insellösungen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir hinsichtlich einer auch langfristig finanzierbaren, zukunftsfesten Medizin zusehends den Anschluss an internationale Standards verlieren. Die Schere in der Gesundheitsversorgung klafft immer weiter auseinander: Auf der einen Seite räumlich und logistisch begrenzte Hightech-Medizin, auf der anderen Seite veraltete, ineffiziente analoge Strukturen und Prozesse im Gesundheitssystem.
Digitalisierung im Krankenhausumfeld: Ernüchternde Rahmenbedingungen
Die mangelnde Vernetzung und der fehlende Datenaustausch zwischen den Leistungserbringern bedingen nicht nur eine signifikante Limitierung des medizinischen Fortschritts. Sie verhindern auch – nicht zuletzt durch einen nicht mehr zeitgemäßen Datenschutz – eine insgesamt effiziente und im Sinne der Patienten arbeitende Gesundheitswirtschaft.
Hinzu kommt: Die Tendenz zur Veränderung ist bei fast allen Stakeholdern überaus gering. Denn im überwiegend beitragsfinanzierten, plan- und marktwirtschaftlichen Mischsystem mit seinem gigantischen jährlichen Gesamtvolumen von 440 Milliarden Euro geht es nicht um Innovation, sondern um Proporz und Verteidigung der eigenen Geldflüsse. Dies sind die ernüchternden Rahmenbedingungen, die viele Mittelständler und Start-ups in der Gesundheitswirtschaft kennen, die mit ihren digitalen Angeboten und Lösungen schon oft vor verschlossenen Kliniktüren gestanden haben.
Neues Mindset dringend gefragt
Angesichts des längst chronischen Pflegenotstands und der Unterfinanzierung im Krankenhauswesen lässt die aktuelle Situation jedoch ein „Weiter so“ nicht mehr zu, sonst droht der personelle und finanzielle Kollaps. Dauerhaft bestehen wird nur die Institution, die sich den Herausforderungen stellt und die Digitalisierung aktiv aus der eigenen Organisation heraus vorantreibt.
An der Konsolidierung der Krankenhauslandschaft, in der kleinere Kliniken geschlossen oder zu Gesundheitszentren umgebaut werden, die die Grundversorgung sichern, und größere Häuser die Behandlung komplexer Fälle übernehmen, werden wir daher als wichtige Strukturreform nicht vorbeikommen – auch wenn das Thema noch nicht so recht in Fahrt kommt. Aber nur so können wir mithilfe der Digitalisierung den Pflegenotstand und die finanziellen Defizite bestmöglich managen.
Größere Rolle für digitale Angebote
Die gute Nachricht: Es gibt sie bereits – die Krankenhausmanager, die diesen Spirit verkörpern und sich für Innovationen öffnen. Die bereit sind, alte Strukturen und Prozesse über Bord zu werfen, sie auch notgedrungen über Bord werfen müssen und ihre Häuser in das digitale Zeitalter überführen.
In dem vor wenigen Tagen erschienenen neuen E‑Health-Monitor 2022 kommt die Beratungsgesellschaft McKinsey neben manch deprimierender Bestandsaufnahme – so nutzen aktuell weniger als ein Prozent der gesetzlich Versicherten die elektronische Patientenakte – auch zu dem Schluss, dass bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens in den vergangenen zwölf Monaten Fortschritte zu verzeichnen sind und digitale Angebote eine immer größere Rolle spielen.
Chancen für Mittelständler
Es besteht also durchaus Grund zur Hoffnung, dass sich das so dringend erforderliche digitale Mindset endlich weiter ausbildet. Dazu braucht es heute mehr denn je konkrete unternehmerische Lösungen, um die digitale Transformation in den Häusern voranzutreiben – trotz aller herausfordernden wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen. Das wird nicht ohne die Hilfe innovativer Mittelständler und Start-ups gelingen.
Ihre Chance: Im Gegensatz zu den multinationalen Datenkonzernen wie Alphabet, Amazon & Co., die längst schon mit den Hufen scharren, um in den Riesenmarkt Gesundheit einzusteigen, kennen sie sich mit den Gegebenheiten des deutschen Gesundheitssystems und Datenschutzes bestens aus. Sie können passgenaue Lösungen für die Gesundheitsversorgung der Zukunft in Deutschland entwickeln – ein entscheidender Qualitäts- und Erfahrungsvorsprung.
Mehr Patientenorientierung
Krankenhäuser, aber auch viele andere Player im Gesundheitswesen, müssen und werden in die Digitalisierung investieren. Die Frage nach dem Return on Investment ist dabei wichtig, darf aber im traditionell langsam drehenden Gesundheitssystem nicht an erster Stelle stehen und schon gar nicht nach Industriekriterien bewertet werden. Denn auch hier müssen wir Klartext reden: Es dauert immer lange, häufig auch viel zu lange, bis das DRG-Abrechnungssystem mit seinen Fallpauschalen – wenn es denn langfristig überhaupt bestehen bleibt – den Mehrwert von digitalen und generell von innovativen Lösungen angemessen honoriert.
Im Markt tätige junge und mittelständische Unternehmen wissen das und richten ihren Businessplan danach aus. Der Vorteil auf der anderen Seite: Geschäftsbeziehungen mit Einrichtungen der Gesundheitswirtschaft und insbesondere auch Kliniken sind in der Regel langlebig und planbar – und somit eine gute Grundlage für ein stabiles, langfristig ausgerichtetes Geschäftsmodell.
Digitalisierung zum Wohle der Menschen
Als große Universitätsmedizin mit vielen Standorten setzen wir in Essen – neben medizinischen Geräten – Angebote von Mittelständlern und Start-ups überall da ein, wo es den Klinikbetrieb erleichtert und die Beschäftigten entlastet: etwa bei unserem digitalen Service- und Informationscenter, dem digital gestützten Management von Betten und Geräten bis hin zu einem eigenen Metaverse für Schulungen und Veranstaltungen.
Das Wohl der Menschen ist der Treiber der Digitalisierung. Dies ist nicht nur die ethische Verpflichtung der Medizin. Es bedeutet auch Chancen auf Markteintritt und Wachstum für viele Unternehmen des Mittelstands.
Der Autor: Prof. Dr. Jochen A. Werner ist seit 2015 Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender des Essener Universitätsklinikums. Als HNO-Spezialist arbeitete er wissenschaftlich vor allem im Bereich Onkologie. Seit seinem Wechsel ins Krankenhausmanagement treibt Werner die Digitalisierung des Essener Universitätsklinikums konsequent voran und richtet so den Krankenhausbetrieb auch nachhaltiger aus. Zuletzt lieferte er mit seinem Buch „So krank ist das Krankenhaus. Ein Weg zu mehr Menschlichkeit, Qualität und Nachhaltigkeit in der Medizin“ wichtige Impulse in der Debatte um die Zukunft des deutschen Gesundheitssystems.