Christian Pudzich
8. Februar 2023

Die Digi­ta­li­sie­rung des deut­schen Gesund­heits­sys­tems kommt nur schlep­pend in Fahrt. Lang­fris­tig führt an ihr aber kein Weg vor­bei. Das eröff­net Chan­cen für den Mit­tel­stand, wie Prof. Dr. Jochen A. Wer­ner, Ärzt­li­cher Direk­tor und Vor­stands­vor­sit­zen­der des Esse­ner Uni­ver­si­täts­kli­ni­kums, in sei­nem Gast­bei­trag verrät. 

Die moderne Medi­zin ist zumin­dest in der prak­ti­schen Anwen­dung mit Sie­ben­mei­len­stie­feln in Sachen Digi­ta­li­sie­rung unter­wegs und hat die Poten­ziale von Digi­ta­li­sie­rung und Künst­li­cher Intel­li­genz zur Ver­bes­se­rung der Dia­gnos­tik, The­ra­pie und Prä­ven­tion erkannt. In immer mehr OP-Sälen wird mit­hilfe von Robo­tern gear­bei­tet, Aug­men­ted und Vir­tual Rea­lity haben längst bei Aus­bil­dung und Behand­lung Ein­zug gehal­ten, gewal­tige Daten­men­gen bil­den die Basis für erfolg­rei­che The­ra­pien bei kom­ple­xen Krank­heits­bil­dern wie etwa in der Onkologie.

Ist Deutsch­land also auf dem rich­ti­gen Weg? Weit gefehlt. Denn viele fort­schritt­li­che Insel­lö­sun­gen dür­fen nicht dar­über hin­weg­täu­schen, dass wir hin­sicht­lich einer auch lang­fris­tig finan­zier­ba­ren, zukunfts­fes­ten Medi­zin zuse­hends den Anschluss an inter­na­tio­nale Stan­dards ver­lie­ren. Die Schere in der Gesund­heits­ver­sor­gung klafft immer wei­ter aus­ein­an­der: Auf der einen Seite räum­lich und logis­tisch begrenzte High­tech-Medi­zin, auf der ande­ren Seite ver­al­tete, inef­fi­zi­ente ana­loge Struk­tu­ren und Pro­zesse im Gesundheitssystem.

Digi­ta­li­sie­rung im Kran­ken­haus­um­feld: Ernüch­ternde Rahmenbedingungen

Die man­gelnde Ver­net­zung und der feh­lende Daten­aus­tausch zwi­schen den Leis­tungs­er­brin­gern bedin­gen nicht nur eine signi­fi­kante Limi­tie­rung des medi­zi­ni­schen Fort­schritts. Sie ver­hin­dern auch – nicht zuletzt durch einen nicht mehr zeit­ge­mä­ßen Daten­schutz – eine ins­ge­samt effi­zi­ente und im Sinne der Pati­en­ten arbei­tende Gesundheitswirtschaft.

Hinzu kommt: Die Ten­denz zur Ver­än­de­rung ist bei fast allen Stake­hol­dern über­aus gering. Denn im über­wie­gend bei­trags­fi­nan­zier­ten, plan- und markt­wirt­schaft­li­chen Misch­sys­tem mit sei­nem gigan­ti­schen jähr­li­chen Gesamt­vo­lu­men von 440 Mil­li­ar­den Euro geht es nicht um Inno­va­tion, son­dern um Pro­porz und Ver­tei­di­gung der eige­nen Geld­flüsse. Dies sind die ernüch­tern­den Rah­men­be­din­gun­gen, die viele Mit­tel­ständ­ler und Start-ups in der Gesund­heits­wirt­schaft ken­nen, die mit ihren digi­ta­len Ange­bo­ten und Lösun­gen schon oft vor ver­schlos­se­nen Kli­nik­tü­ren gestan­den haben.

Neues Mind­set drin­gend gefragt

Ange­sichts des längst chro­ni­schen Pfle­ge­not­stands und der Unter­fi­nan­zie­rung im Kran­ken­haus­we­sen lässt die aktu­elle Situa­tion jedoch ein „Wei­ter so“ nicht mehr zu, sonst droht der per­so­nelle und finan­zi­elle Kol­laps. Dau­er­haft bestehen wird nur die Insti­tu­tion, die sich den Her­aus­for­de­run­gen stellt und die Digi­ta­li­sie­rung aktiv aus der eige­nen Orga­ni­sa­tion her­aus vorantreibt.

An der Kon­so­li­die­rung der Kran­ken­haus­land­schaft, in der klei­nere Kli­ni­ken geschlos­sen oder zu Gesund­heits­zen­tren umge­baut wer­den, die die Grund­ver­sor­gung sichern, und grö­ßere Häu­ser die Behand­lung kom­ple­xer Fälle über­neh­men, wer­den wir daher als wich­tige Struk­tur­re­form nicht vor­bei­kom­men – auch wenn das Thema noch nicht so recht in Fahrt kommt. Aber nur so kön­nen wir mit­hilfe der Digi­ta­li­sie­rung den Pfle­ge­not­stand und die finan­zi­el­len Defi­zite best­mög­lich managen.

Grö­ßere Rolle für digi­tale Angebote

Die gute Nach­richt: Es gibt sie bereits – die Kran­ken­haus­ma­na­ger, die die­sen Spi­rit ver­kör­pern und sich für Inno­va­tio­nen öff­nen. Die bereit sind, alte Struk­tu­ren und Pro­zesse über Bord zu wer­fen, sie auch not­ge­drun­gen über Bord wer­fen müs­sen und ihre Häu­ser in das digi­tale Zeit­al­ter überführen.

In dem vor weni­gen Tagen erschie­ne­nen neuen E‑He­alth-Moni­tor 2022 kommt die Bera­tungs­ge­sell­schaft McK­in­sey neben manch depri­mie­ren­der Bestands­auf­nahme – so nut­zen aktu­ell weni­ger als ein Pro­zent der gesetz­lich Ver­si­cher­ten die elek­tro­ni­sche Pati­en­ten­akte – auch zu dem Schluss, dass bei der Digi­ta­li­sie­rung des Gesund­heits­we­sens in den ver­gan­ge­nen zwölf Mona­ten Fort­schritte zu ver­zeich­nen sind und digi­tale Ange­bote eine immer grö­ßere Rolle spielen.

Chan­cen für Mittelständler

Es besteht also durch­aus Grund zur Hoff­nung, dass sich das so drin­gend erfor­der­li­che digi­tale Mind­set end­lich wei­ter aus­bil­det. Dazu braucht es heute mehr denn je kon­krete unter­neh­me­ri­sche Lösun­gen, um die digi­tale Trans­for­ma­tion in den Häu­sern vor­an­zu­trei­ben – trotz aller her­aus­for­dern­den wirt­schaft­li­chen und poli­ti­schen Rah­men­be­din­gun­gen. Das wird nicht ohne die Hilfe inno­va­ti­ver Mit­tel­ständ­ler und Start-ups gelingen.

Ihre Chance: Im Gegen­satz zu den mul­ti­na­tio­na­len Daten­kon­zer­nen wie Alpha­bet, Ama­zon & Co., die längst schon mit den Hufen schar­ren, um in den Rie­sen­markt Gesund­heit ein­zu­stei­gen, ken­nen sie sich mit den Gege­ben­hei­ten des deut­schen Gesund­heits­sys­tems und Daten­schut­zes bes­tens aus. Sie kön­nen pass­ge­naue Lösun­gen für die Gesund­heits­ver­sor­gung der Zukunft in Deutsch­land ent­wi­ckeln – ein ent­schei­den­der Qua­li­täts- und Erfahrungsvorsprung.

Mehr Pati­en­ten­ori­en­tie­rung

Kran­ken­häu­ser, aber auch viele andere Player im Gesund­heits­we­sen, müs­sen und wer­den in die Digi­ta­li­sie­rung inves­tie­ren. Die Frage nach dem Return on Invest­ment ist dabei wich­tig, darf aber im tra­di­tio­nell lang­sam dre­hen­den Gesund­heits­sys­tem nicht an ers­ter Stelle ste­hen und schon gar nicht nach Indus­trie­kri­te­rien bewer­tet wer­den. Denn auch hier müs­sen wir Klar­text reden: Es dau­ert immer lange, häu­fig auch viel zu lange, bis das DRG-Abrech­nungs­sys­tem mit sei­nen Fall­pau­scha­len – wenn es denn lang­fris­tig über­haupt bestehen bleibt – den Mehr­wert von digi­ta­len und gene­rell von inno­va­ti­ven Lösun­gen ange­mes­sen honoriert.

Im Markt tätige junge und mit­tel­stän­di­sche Unter­neh­men wis­sen das und rich­ten ihren Busi­ness­plan danach aus. Der Vor­teil auf der ande­ren Seite: Geschäfts­be­zie­hun­gen mit Ein­rich­tun­gen der Gesund­heits­wirt­schaft und ins­be­son­dere auch Kli­ni­ken sind in der Regel lang­le­big und plan­bar – und somit eine gute Grund­lage für ein sta­bi­les, lang­fris­tig aus­ge­rich­te­tes Geschäftsmodell.

Digi­ta­li­sie­rung zum Wohle der Menschen

Als große Uni­ver­si­täts­me­di­zin mit vie­len Stand­or­ten set­zen wir in Essen – neben medi­zi­ni­schen Gerä­ten – Ange­bote von Mit­tel­ständ­lern und Start-ups über­all da ein, wo es den Kli­nik­be­trieb erleich­tert und die Beschäf­tig­ten ent­las­tet: etwa bei unse­rem digi­ta­len Ser­vice- und Infor­ma­ti­ons­cen­ter, dem digi­tal gestütz­ten Manage­ment von Bet­ten und Gerä­ten bis hin zu einem eige­nen Meta­verse für Schu­lun­gen und Veranstaltungen.

Das Wohl der Men­schen ist der Trei­ber der Digi­ta­li­sie­rung. Dies ist nicht nur die ethi­sche Ver­pflich­tung der Medi­zin. Es bedeu­tet auch Chan­cen auf Markt­ein­tritt und Wachs­tum für viele Unter­neh­men des Mittelstands.

Der Autor: Prof. Dr. Jochen A. Wer­ner ist seit 2015 Ärzt­li­cher Direk­tor und Vor­stands­vor­sit­zen­der des Esse­ner Uni­ver­si­täts­kli­ni­kums. Als HNO-Spe­zia­list arbei­tete er wis­sen­schaft­lich vor allem im Bereich Onko­lo­gie. Seit sei­nem Wech­sel ins Kran­ken­haus­ma­nage­ment treibt Wer­ner die Digi­ta­li­sie­rung des Esse­ner Uni­ver­si­täts­kli­ni­kums kon­se­quent voran und rich­tet so den Kran­ken­haus­be­trieb auch nach­hal­ti­ger aus. Zuletzt lie­ferte er mit sei­nem Buch „So krank ist das Kran­ken­haus. Ein Weg zu mehr Mensch­lich­keit, Qua­li­tät und Nach­hal­tig­keit in der Medi­zin“ wich­tige Impulse in der Debatte um die Zukunft des deut­schen Gesundheitssystems.

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